Vom Terrorismus zum Staatsterror: Die Institutionalisierung terroristischer Gewalt in den Gebieten des „Islamischen Staates“

Proposal zur Tagung Ist der neue Terrorismus  von gestern:

Ergebnisse und Perspektiven der Terrorismusforschung in Deutschland“ über die Institutionalisierung terroristischer Gewalt in den Gebieten des ‚Islamischen Staates‘

Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale) und Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, am 13 October 2016

Dr. Miriam M. Müller
Hamburger Institut für Sozialforschung
miriam.mueller@his-online.de

Die analytische Unterscheidung zwischen staatlichem Terror „von oben“ und nicht-staatlichem Terrorismus „von unten“ liefert regelmäßig zuverlässige und scharfe Werkzeuge für die Untersuchung, das Klassifizieren und Verstehen von Gewalt[i] in Gesellschaften und den Auswirkungen ihrer Organisation und Institutionalisierung.[ii] Doch was tun, wenn die soziale Realität den Rahmen bewährter analytischer Konzepte sprengt? Daesh,[iii] wie die Bewegung „Islamischer Staat“ hier bezeichnet werden soll, bedient sich regelmäßig außerhalb der von ihr kontrollierten Gebiete terroristischer Gewalt „von unten“ im engeren Sinne, also „planmäßig vorbereitete[r], schockierende[r] Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund,“ aber auch gegen die Zivilbevölkerung und Vertreter des erklärten Feindes,[iv] um „Unsicherheit und Schrecken [zu] verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft [zu] erzeugen.“[v] Doch durch seinen territorialen Anspruch auf Gebiete in Syrien und Irak und den Versuch, die „Verorganisierung“ der Bewegung in Richtung einer Institutionalisierung voranzutreiben,[vi] geht Daesh nicht nur weit über die Form, sondern auch über die kurz- wie auch die langfristigen Ziele anderer jihadistisch-salafistischer Gruppen hinaus: Auf den kontrollierten Gebieten tritt mehr und mehr „staatstypisches“ Gewalthandeln aus dem Instrumentarium totalitärer Herrschaft an die Stelle terroristischer Akte.[vii] Das in diesem Prozess erkennbare, langfristige Ziel, die entgrenzte Gewalt[viii] des Krieges aus der Gesellschaft an die Ränder des kontrollierten „Territoriums“ zu drängen,[ix] ist dabei nur einer von vielen noch zu untersuchenden Hinweisen innerhalb der derzeit beobachtbaren Anstrengungen jihadistisch-islamistischer Staatsbildung.[x]

Die sich hieraus ergebende, entscheidende Herausforderung für die Definition von Terrorismus ist also die temporale, wenn auch nicht zwangsläufig spatiale, Gleichzeitigkeit terroristischen Gewalthandelns „von unten“ mit ansonsten an staatliche Organisation geknüpften, institutionalisiertem Terror „von oben“ im Institutionalisierungsprozess der Bewegung. Um die zentrale Rolle von Gewalt innerhalb der religiösen Ideologie der Bewegung und ihre Unabdingbarkeit für die Expansion, wie auch die Aufrechterhaltung von Herrschaft auf dem von ihm beanspruchten Territorium greifbar zu machen, konzentriert sich der geplante Beitrag deshalb auf die Frage „Wie können wir analytisch mit der Gleichzeitigkeit terroristischer Gewalthandlungen und der Herausbildung quasi-staatlichen Terrors durch eine eindeutig nicht-staatliche Gewaltorganisation umgehen?“

[i] Gewalt wird hier zunächst im engen Sinne mit Popitz als „eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt.“ Popitz versteht nun Gewalt nach seiner Typologie der Macht als Aktionsmacht und unterscheidet diese scharf von instrumenteller Macht. Um jedoch das in diesem Beitrag angesprochene analytische Dilemma erfassen zu können, bedarf eine Ergänzung von Popitz‘ Gewaltbegriff um die Dimension instrumenteller Macht, um die Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit zukünftiger Gewaltanwendung im Sinne einer Androhung physischer Gewalt mitdenken zu können. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen, 1992, 48.

[ii] Zur grundsätzlich analytischen Trennung von Terrorismus und Terror siehe Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, Murmann Verlag, Hamburg, 2005 (1998) 12; Zum Forschungsstand der Terrorismus und Radikalisierungs-Debatte: Pfahl-Traughber, Armin, Von den „Aktivsten“ über die „Kommunikation“ bis zur „Wirkung“. Das AGIKOSUW-Schema zur Analyse terroristischer Bestrebungen, in: Hansen, Stefan/Krause, Joachim (Hg.), Jahrbuch Terrorismus 2013/2014, Verlag Barbara Budrich, Opladen, 2014, 401-423; Marsden, Sarah V./Schmid, Alex P., Typologies of Terrorism and Political Violence, in: Schmid, Alex P.(Hg.), The Routledge Handbook of Terrorism Research, Routledge, New York, 2011, 158-200; Zur Unterscheidung zwischen staatlicher, bzw. institutioneller Kontrolle und sozialer Kontrolle als Handlungsprozesse spezifischer Akteure zur Kontrolle von Gewalt, auch gegenüber der hier angedeuteten Kontrolle durch Gewalt, siehe Kirscher, Andrea/Malthaner, Stefan, in: Heitmeyer, Wilhelm/Haupt, Heinz-Gerhard/ Kirscher, Andrea/Maltahner, Stefan, (Hg.), Control of Violence. Historical and international Perspectives on Violence in Modern Societies, VS Springer Verlag, New York, 2011, 3-45.

[iii] Daesh ist ein Akronym der Vorläuferbezeichnung “Islamischer Staat in Irak und der Levante“ (arab. al-dawla al-islāmīya fīl-ʿirāq wa al-shām) In der Vergangenheit wurde der Ausdruck von der Bewegung selbst verwendet. Heute ist er hingegen als respektlos geächtet und seine Verwendung wird innerhalb der Bewegung schwer bestraft.

[iv] Reuters, Suicide attacks west of Baghdad kill eight: sources, 29.Februar 2016, in: http://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-baghdadblast-idUSKCN0W22IZ.

[v] „Minimaldefinition“ von Terrorismus, in: Waldmann, 2005 (1998) 12.

[vi] Zur „Verorganisierung“ Daeshs: Müller, Miriam M., Noch nutzt die „Verorganisierung“ dem „Islamischen Staat.“
Eine Antwort auf Stefan Kühl und die „Verorganisierung“ des Islamismus, sozialtheoristen.de, 2015, in: http://sozialtheoristen.de/2015/12/03/noch-nutzt-die-verorganisierung-dem-islamischen-staat/#more-6025. (letzter Zugriff: 10.02.2016) Der hier zugrunde liegende Bewegungsbegriff fußt auf den Debatten zur Institutionalisierung von Bewegungen in der Bewegungsforschung an und findet sich in seinen Grundzügen bereits bei Mayreder, wobei hinsichtlich der Transformation sozialer Bewegungen jedoch nicht von einem typischen und somit deterministischen Verlauf ausgegangen wird. Mayreder, Rosa, Der typische Verlauf sozialer Bewegungen, Vortrag am 9.Mai 1917 in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien, in: Der Aufstieg, No.3., Anzengruber-Verlag, Wien-Leipzig, 1917; Stickler, Armin, Organisation und soziale Bewegung. Zur Kritik der bewegungswissenschaftlichen Institutionalisierungsdebatte, in: Bruch, Michael/Schaffrar, Wolfram/Scheiffle, Peter (Hg.), Organisation und Kritik, Westfälisches Dampfboot, 2011, 105-136.

[vii] Die Parallele der zentralen Rolle der Ideologie in den totalitären Systemen des 20.Jhds. und den Bewegungen des jihadistischen Salafismus wurde und wird regelmäßig angesprochen. Eine umfassende theoretische wie empirische Auseinandersetzung  steht indes noch aus. Siehe bspw.Tibis Konzept des „neuen Totalitarismus“, Tibi, Bassam, The Totalitarianism of Jihadist Islamism and its Challenge to Europe and to Islam, in: Totalitarian Movements and Political Religions, Vol. 8, No. 1, 2007, 35-54 und die weniger analytische und vielmehr deskriptive Studie von  Schütz, Mathias, Ideologien der Vernichtung. Nationalsozialismus und radikaler Islam, Bouvier, Bonn, 2011. Zum Totalitarismusbegriff und analytischen Verständnis: Arendt, Hannah, The Origins of Totalitarianism, Harcourt Brace Jovanovich, New York, 1951, 331f; Löwenthal, Die totalitäre Diktatur, Schmeitzner, Mike (ed.), Löwenthal, Richard. Faschismus – Bolschewismus – Totalitarismus. Schriften zur Weltanschauungsliteratur im 20.Jhd., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2009, 546-563; Graf Kielmannsegg, Peter, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Zeitschrift für Politik, Nr. 21, 1974, 311-326.

[viii] Zum Diskurs der Entgrenzung von Gewalt, insbesondere i. Zush. mit dem Gewaltbegriff bei Heinrich Popitz siehe Endreß, Martin, Entgrenzung des Menschlichen. Zur Transformation der Strukturen menschlichen Weltbezuges durch Gewalt, in: Heitmeyer, Wilhelm/ Soeffner, Hans-Georg, Gewalt, Suhrkamp Verlag, Frankefurt am Main, 2004, 174-201.

[ix] Zur beschriebenen Prozess der Befriedung von Gesellschaften durch die Verbindung von Überwachung, der Zentralisierung von Gewalt und der Externalisierung von Gewalt siehe Giddens, Anthony, The Nation State and Violence, Blackwell, New York, 1983, 192. Zur Dynamik der Verschiebung von Gewalt an die Außengrenzen einer Gemeinschaft, siehe Foucault, Michel, Vorlesung vom 21.Januar 1976, in: Society Must be Defended. Lectures at the College de France 1975 – 1976, Picador, New York, 2003, 48f.

[x] Von der Formulierung und Durchsetzung von Regelwerken zur öffentlichen Ordnung, und umfassenden Lebensvorschriften, die das Privatleben eines jeden Einzelnen bis ins Detail hinein regeln, bis hin zu einer nicht allein selbsterklärten, sondern auch durch Daesh als solche wahrgenommenen und verfolgten Widerstandbewegung. Gemeint ist die Gruppe “Raqqa is being slaughtered Silently” (RBSS), Al-Hadj, Mansour, Anti-ISIS Activists In Al-Raqqa Vow To Remain Resolute Despite Constant Death Threats, Assassinations, Memri Terrorism and Threat Monitor, 04.02.2016, in: http://www.memrijttm.org/content/view_print/blog/9122; ISIS Video Showcases Religious Police Activity in Al-Raqqa, 09.06. 2015, Memri, in: http://www.memrijttm.org/content/view_print/blog/8493. (letzter Zugriff: 01.03.2016).

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